Frauenleben

Ich bin mit Mädchenbüchern aufgewachsen.

Jedes Jahr zu Ostern kam ein neuer Band von Nesthäkchen, zu Weihnachten gab es Puckibände von Mutter und Tante. Zwischendurch auch schon mal Trotzkopf, Hummelchen, Bummi, Goldköpfchen, diese aber nie so regelmäßig.

Zur Hauswirtschaftsschule sollte ich gehen, wünschte sich meine Mutter. Kellerfaltenröcke und Twinsets tragen mit Bernsteinkette, und nett gekämmt wie Dagmar Berghoff herum laufen.

Bis mein Vater sich einmischte. „Diesen Quatsch braucht ihr dem Kind nicht mehr zu schenken.“, grollte er. Und auf gar keinen Fall sollte seine Tochter ein Puddingabitur bauen. Nur ein richtiges Abitur zählte – „Meinetwegen alles Vieren“, weil doch die Vier die Eins des kleinen Mannes sei. Ihm war als Bergmannssohn dieses aus Kostengründen verwehrt geblieben. Weiterführende Schulen forderten Schulgeld.

Tief beleidigt zogen sich Mutter und Tante zurück.

Fortan schenkte Vater mir richtige Kinderbücher: Huckleberry Finn, Robinson Crusoe, Oliver Twist und David Copperfield als Jugendausgabe, und sein geliebtes Fliegendes Klassenzimmer.

Ich habe sie alle verschlungen. Wollte auf einem Hausboot über den Mississippi schippern, auf einer einsamen Insel stranden und dort in einem alten Eisenbahnwaggon leben – natürlich würde ich eine riesige Seekiste voll mit Büchern am Strand finden. Für die Unterhaltung. Einen Freitag brauchte ich nicht.

Aber daneben wünschte ich mir heimlich die restlichen Nesthäkchen- und Pucki-Bände. Ich wollte wissen, was Annemarie Braun im weißem Haar mit ihren Enkeln erlebte und wie Hedis Lebenssommer aussah.

Irgendwann als Erwachsene habe ich mir die Fehlenden selber gekauft. Aber der Zauber war fort. Unerträglich fand ich die Reduzierung der Frau auf Mutterschaft und Haushalt, auf das „typisch Weibliche“. Dieses traditionelle Frauenbild passte nicht mehr.

Trotzdem blieb mir Nesthäkchen im Kopf. Als wir während eines Urlaubes auf Föhr einen Abstecher nach Amrum machten, suchte ich unwillkürlich nach dem Leuchtturm, der Nesthäkchen bei ihrem Aufenthalt dort im Kinderheim den Weg aus der tosenden See zum Strand zeigte. In Wittdün vermisste ich die Villa Daheim, wo Frau Kapitän Clarsen den Kindern mit selbst gepulten Krabben und Schauergeschichten unvergessliche Stunden schenkte.

Schon als Kind war mir eine merkwürdige Lücke in den Nesthäkchen-Bänden aufgefallen. Zwischen dem Kinderheim (3) und Backfischzeit (4) fehlte anscheinend etwas. Der Krieg, der am Schluss des dritten Bandes ausgebrochen war, spielte im folgenden gar keine Rolle mehr.

Nesthäkchen_WeltkriegUrsprünglich gab es dazwischen einen Band  „Nesthäkchen und der Weltkrieg“. Dieser wurde nach 1945 aus der Sammlung entfernt, weil er  zu kriegsverherrlichend und chauvinistisch erschien. Lediglich eine Zusammenfassung am Ende von Band 3 wurde eingefügt.

Das erklärt die Zeitsprünge der sonst zeitlich kontinuierlichen Reihe.

 

Im Projekt Gutenberg kann man auch diesen Band lesen:

http://gutenberg.spiegel.de/buch/7646/1

 

Else UryWer war Else Ury?

Die jüdische Familie Ury war in der dritten Generation in Berlin ansässig. Der Großvater, Levin Elias Ury, bekam 1828 als jüdischer Einwanderer aus Tangermünde Stadtbürgerrecht in Berlin. Er wurde Vorsteher der großen jüdischen Gemeinde. Der Vater war Tabakfabrikant, die Brüder wurden Rechtsanwalt und Arzt.

Für Else Ury war die zehnte Klasse – wie üblich für Mädchen ihrer Zeit – die letzte Klasse ihrer Schulausbildung. 1894, in dem Jahr, in dem Else Ury die Schule verließ, gab es noch keine Mädchengymnasien in Berlin. Die einzige Weiterbildung, die entsprechend den damaligen Konventionen einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Hause offen stand, war der Besuch eines Lehrerinnenseminars. Ihre jüngere Schwester besuchte eine dieser Einrichtungen und machte vor ihrer Ehe noch das Lehrerinnenexamen. Else Ury erlernte keinen Beruf, sondern lebte weiterhin bei ihren Eltern. Sie begann zu schreiben. Sie hat nie geheiratet.

Die Nesthäkchen-Reihe wurde für Else Ury der finanziell größte Erfolg. In den späten zwanziger Jahren war sie eine geachtete Person des öffentlichen Lebens, deren Geschichten im Radio vorgelesen wurden. In Meidingers Kinderkalender wurde eine „Nesthäkchenpost“ eingerichtet, die Ury dort beantwortete und mit Nesthäkchen unterschrieb.

Insgesamt hat sie 7 Millionen Bücher verkauft. Von ihren Einnahmen konnte sie sich in dem traditionellen Ferienort Krummhübel (Karpacz) ein Haus kaufen, in dem sie eine Wohnung als Feriendomizil für sich und ihre Familie nutzte. Das Haus bekam den Namen Nesthäkchen-Haus.

1935 wurde Else Ury aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was gleichbedeutend mit einem Berufsverbot für sie war.

Einige Familienmitglieder emigrierten nach England, wo Else Ury sie 1938 besuchte. Sie kehrte jedoch nach Deutschland zurück, um weiterhin ihre gehbehinderte Mutter zu pflegen. 1939 wurden sie gezwungen, in ein „Judenhaus“ in der Solinger Straße zu ziehen. 1940 starb auch die Mutter. Else Ury war nun allein.

else ury koffer

 

Am 13. Januar 1943 wurde Else Ury im 26. sogenannten Osttransport des Reichssicherheitshauptamts unter der Nummer 638 nach Auschwitz  deportiert und sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet

Über perlengazelle

Ich bin: eine Rechenknechtin, Erbsenzählerin, Randfichte, Sitzriesin, Heinzelmännin. Ich mag: Woody Allen, Mascha Kaléko, Rilke, Siri Hustvedt, Vilhelm Hammershøi, Hannes Wader, Ludwig Hirsch, Kimmo Joentaa, Professor Boerne, Meryl Streep, Dr. Eddie „Fitz“ Fitzgerald, Walt Kowalski, den Ruhrpott-Humor, lesen, schreiben, rechnen, Föhr, Kaffee, Katzen … ... und ... und ... und ... mails an perlengazelle@web.de
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9 Antworten zu Frauenleben

  1. Elvira schreibt:

    Wie immer, wenn ich so etwas lese, zieht sich mein Herz zusammen. Ich werde nie, nie begreifen, wie das alles hat möglich sein können – und wenn ich 1000 Bücher mit Erklärungen lesen würde. Niemals kann das in irgendeiner Weise gut gemacht werden, niemals. Darum ist es so immens wichtig, an die prominenten genau wie an die vielen, vielen unbekannten Ermordeten immer wieder zu erinnern.

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  2. perlengazelle schreibt:

    Ich denke, dass Einzelschicksale mehr berühren. 6 Millionen sind eine so große unvorstellbare Zahl. Da verschwindet der Einzelne in einer anonymen Masse.
    Das Schicksal von Else Ury war lange Zeit unbekannt. Anscheinend interessierte sich niemand für sie, obwohl ihre Bücher millionenfach gelesen wurden und auch heute noch auf dem Markt sind. Erst 50 Jahre nach ihrem Tod erschien eine Biographie.
    http://www.zeit.de/1993/03/toedliche-liebe

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  3. Naomi schreibt:

    Sehr schöner Beitrag, liebe Gazelle.
    Mir ging es genau so wie dir – ich las die „richtigen“ Kinder- und Jugendbücher (natürlich wirklich sehr gern), aber ich wollte unbedingt auch Pucki, Nesthäkchen und Trotzkopf lesen. Das war bei uns in der Familie nicht so gern gesehen, also borgte ich mir diese Bücher und las sie heimlich auf dem Dachboden.

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  4. Petra Gust-Kazakos schreibt:

    Ich finde deinen Beitrag auch sehr schön, besonders interessant ist der Teil über die Autorin, über die ich bislang gar nichts weiter wusste. Was für ein schreckliches, trauriges Schicksal …

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  5. Kastanie schreibt:

    Ich habe die „Nesthäkchen“-Bände erst nach 1990 kennengelernt, als vor allem ältere Damen in meiner Buchhandlung nach ihnen verlangten. Als ich da reingelesen habe, fand ich den Inhalt ziemlich kitschig und natürlich altbacken. Aber ich gehörte eben schon nicht mehr zur Zielgruppe. Als junges Mädchen wäre ich vielleicht auch begeistert gewesen. – Dass die Autorin solch ein schreckliches Schicksal hatte, wusste ich nicht. Danke, dass Du daran erinnerst. Viele Grüße, Claudia

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  6. perlengazelle schreibt:

    Ich habe jetzt den fehlenden Band (N. und der Weltkrieg) gelesen. Else Ury schrieb ihn zu jener Zeit. Der Hurra-Patriotismus ist streckenweise unerträglich. Ist aber wohl typisch für viele Deutschen gewesen. Trotzdem war das Lesen interessant. Else Ury erzählt als Zeitzeugin viel über den Kriegsalltag der Frauen und Kinder in den Jahren 1914 – 1916. Dabei findet man auch hier und da ganz leise kritische Töne.
    Kurios finde ich auch, dass E. Ury zwar das Loblied der Hausfrau und Mutter in höchsten Tönen besingt, selbst jedoch eine emanzipierte Frau war, die ihren Lebensunterhalt allein bestritt und äußerst erfolgreich damit war.

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    • Melanie Wiederich schreibt:

      Aus Ihrem Erfolg als Buchautorin allein kann man wohl nicht auf eine emanzipierte Frau schließen. Es gab vor dem 1.WK bereits einige wenige akzeptierte Berufe für Frauen, zu denen auch die Schriftstellerin zählte. Sie stammte aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie und war deshalb mit einer souveränen Lebenweise gut vertraut. Ihre Bücher sind inhaltlich systemkonform. Was man von ihrer Lebensführung liest, passt ohne Widersprüche zum damaligen Mainstream.
      Das alles ergibt m.E nicht den geringsten Anlass für Kritik, aber auch nicht dafür, in ihr eine besonders emazipierte Frau zu erkennen oder dass ihre Erfolge etwas mit Emanzipation zu tun hätten.

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