Bald hüllt Vergessenheit mich ein
Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen
Ich gehe schweigend durch das fremde Land.
Vom Brot der Sprache blieben nur die Brocken,
Die ich verstreut in meinen Taschen fand.
Verstummt sind sie, die mütterlichen Laute,
Die staunend ich von ihren Lippen las,
Milch, Baum und Bach, die Katze, die miaute,
Mond und Gestirn, das Einmaleins der Nacht.
Es hat der Wald noch nie so fremd gerochen.
Kein Märchen ruft mich, keine gute Fee.
Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen.
Bald hüllt Vergessenheit mich ein wie Schnee.
Hans Sahl
Post Scriptum Anno Fünfundvierzig
Inzwischen bin ich viel zu viel gereist,
Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik.
Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist,
Und was ich suchte, keineswegs Romantik.
Das war einmal. In einem anderen Leben.
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was ergeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind.
Das lernt das Wörtchen „alien“ buchstabieren
Und spricht zur Mutter: „Don’t speak German, dear.“
Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen,
Daß er „allright“ ist, wenn auch nicht von hier.
Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May!
Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte . . .
Er denkt, was ich in seinem Alter dachte:
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
Mascha Kaléko
Danke für das Sahl-Gedicht, das mich ganz tief berührt hat …..
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Jetzt gibt es wieder viele, die aus Kriegsgebieten in ein fernes, fremdes, oft unwilliges Land flüchten müssen – da ist dieses Gedicht hoch aktuell.
„Das Gedicht hat im Exil seinen Charakter verändert, es ist zu einem Forum der Gewissensbefragung geworden. Da wir kein Publikum mehr haben, an das wir uns wenden können, wird das Gedicht zum Gedankenaustausch, zur Kommunikation mit unseresgleichen über Probleme der Selbsterhaltung oder der politischen Zielsetzung – Gedichte im Exil: Blinkzeichen, Raketen, die man aufsteigen läßt, um sich im Dunkeln zu verständigen …«
Hans Sahl in einer Rede anläßlich der Verleihung des Internationalen Exil-Preises 1991.
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Hat dies auf rebloggt und kommentierte:
„Vergesst nicht, was geschehen ist, und entwickelt daraus Maßstäbe für euer eigenes Handeln.“
Max Mannheimer (http://saetzeundschaetze.com/2014/01/20/harald-roth-was-hat-der-holocaust-mit-mir-zu-tun/).
Und so klang es gestern bei Mascha Kaléko (und so klingt es heute):
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was ergeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind…
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