Trotz allem der Wille, sich nicht fallen zu lassen

Auf einer sonnigen und friedlichen Insel irgendwo im Ozean wäre es mir gleichgültig, ob ich Jude bin oder nicht. Aber hier und jetzt kann ich nichts anderes sein. Und ich will auch nichts anderes sein.

Heute hatte ich wieder stärker als sonst das Gefühl, dass das alles nicht wahr ist, dass alles schrecklich irreal ist, dass ich in einem Albtraum gefangen bin, in ihm versinke – und dass ich aufwachen muss. Dass ich bloß nicht überschnappe. Manchmal fühle ich mich derart erschöpft, dass ich Angst habe, den Verstand, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren.

Mihail Sebastian – Eintrag im Tagebuch vom 17. Dezember 1941

 

 

Der rumänisch-jüdische Schriftsteller Mihail Sebastian (1907 – 1945) hieß eigentlich Iosif Hechter und gehörte zur geistigen Elite Rumäniens. Er verfasste Romane, Theaterstücke, Reisebeschreibungen, Essays und Analysen zu Literatur, Politik und Moderne. Besonders beschäftigte er sich mit Proust – bis an sein Lebensende sollte der ihn nicht loslassen. Seine Werke fanden in Rumänien viel Beachtung, gingen aber nach seinem Tod in den politischen Wirren des Wechsels von einer Diktatur zu anderen fast unter.

1919 hatte Rumänien seinen jüdischen Bürgern volle staatsbürgerliche Rechte zugestanden, rechtsradikale Gruppierungen wie die „Eiserne Garde“ verhinderten jedoch schon in den 20er-Jahren deren Umsetzung und machten den Antisemitismus in Rumänien gesellschaftsfähig. Im  Jahr 1934, verabschiedete Rumänien Rassegesetze – ein Jahr vor dem nationalsozialistischen Deutschland.

Die Veröffentlichung des Romans „Seit zweitausend Jahren“ (1934) machte Sebastian berühmt und markierte zugleich den Anfang vom Ende seines Erfolgs. Er setzt sich darin mit der Frage nach der jüdischen Identität unter den Bedingungen des Antisemitismus auseinander.

Für den Roman bat Sebastian seinen Mentor Nae Ionescu, der in dem auch als Schlüsselroman angelegten Werk einen Auftritt als Philosophieprofessor hat, um ein Vorwort. Dieser hatte sich indes mehr und mehr der antisemitischen Politik der Eisernen Garde angenähert, die sich ihrerseits nun auch auf Ionescus zunehmend nationalistisch, wenn nicht völkisch geprägte Vorträge berief.

Dieses Vorwort entpuppt sich als antijüdische Hetzschrift und wird von Sebastian als „Todesurteil“ empfunden. Ionescu rechtfertigt die Diskriminierung der Juden als historisch wie theologisch unausweichliche Folge des Christusmordes; die Juden stellten eine Gefahr für die „christliche Ordnung“ dar; Ionescu schloss das Vorwort mit den Worten:

„Iosif Hechter, du bist krank. Du bist krank in deiner Substanz, weil du nicht anders kannst als leiden und weil dein Leiden tiefe Ursachen hat. Der Messias ist schon gekommen, und du hast ihn nicht erkannt. Iosif Hechter, fühlst du nicht, wie dich Kälte und Dunkelheit umfangen?“

Trotz dieser scharfen Beleidigung entschloss sich Sebastian aus Loyalität, den Roman mit dem Vorwort Ionescus erscheinen zu lassen. Dies führte zu einer beispiellosen Kontroverse im rumänischen Literaturbetrieb.

Als sich seine Freunde allmählich von ihm zurückziehen und zum Faschismus konvertieren, beginnt Sebastian im Jahr 1935 Tagebuch zu schreiben. Er fühlt sich zunehmend isoliert, verliert seine Erwerbsquellen, seine Wohnung, das Telephon, das Radio. Es drohen Arbeitseinsätze und Deportationen. Lektüre und Musikhören halten ihn aufrecht. Wie die meisten Juden im rumänischen „Altreich“ entging er jedoch den Deportationen in die Ghettos und Todeslager Transistriens, die gegen Ende des Jahres 1942 eingestellt wurden. Als im August 1944 Bukarest endlich von den Sowjets eingenommen wird, registriert Sebastian fast ungläubig, dass er überlebt hat.

Das Tagebuch enthält neben seinen privaten Erlebnissen (viele unglückliche Lieben) Berichte über seine umfangreiche Lektüre und Konzerte, die er im Radio oder im Konzertsaal verfolgt. Daneben liest man über die Konzeption und Vollendung seiner Stücke – das manchmal verzweifelte Ringen um den Text. Er kommentiert die politische Weltlage, das Kriegsgeschehen, die Entwicklung andere Intellektueller. Ständige Geldsorgen und eine schwache Gesundheit plagen ihn.

Im Mai 1945 geht es für ihn aufwärts. Als er seine Antrittsvorlesung über Balzac an der Literaturfakultät der Bukarester Universität halten will, wird er auf der Straße von einem LKW erfasst und getötet.

 

Über Bücher lassen sich keine Voraussagen machen. Wie das unsere liegt auch ihr Schicksal im Dunkeln. Es gibt keinen Engel der Gerechtigkeit, der über Erinnerung und Vergessen waltet. Doch die Tatsache, dass der Autor mit einem allem Leid zugewandten Herzen und mutigem, bis zum letzten Augenblick wachen Verstand durch die Welt ging und von seinem Leben ein tiefes, bewegendes Zeugnis ablegte, wird genügen, um sein Tagebuch im Urteil der Nachwelt bestehen zu lassen.

Mihail Sebastian über das Tagebuch des englischen Zoologen William Barbellion

 

Weiterlesen:

Mihail Sebastian Mihail Sebastian – „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“

Tagebücher 1935 – 44

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Mihail_Sebastian

http://de.wikipedia.org/wiki/Nae_Ionescu

http://de.wikipedia.org/wiki/Eiserne_Garde

Über perlengazelle

Ich bin: eine Rechenknechtin, Erbsenzählerin, Randfichte, Sitzriesin, Heinzelmännin. Ich mag: Woody Allen, Mascha Kaléko, Rilke, Siri Hustvedt, Vilhelm Hammershøi, Hannes Wader, Ludwig Hirsch, Kimmo Joentaa, Professor Boerne, Meryl Streep, Dr. Eddie „Fitz“ Fitzgerald, Walt Kowalski, den Ruhrpott-Humor, lesen, schreiben, rechnen, Föhr, Kaffee, Katzen … ... und ... und ... und ... mails an perlengazelle@web.de
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3 Antworten zu Trotz allem der Wille, sich nicht fallen zu lassen

  1. buchpost schreibt:

    Vielen Dank für den Hinweis auf dieses Buch, das sonst unbemerkt an mir vorbeigegangen wäre. Es erinnerte mich stark an die Tagebücher Viktor Klemperers. Sebastian kommt umgehend auf meine Wunschliste.

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  2. perlengazelle schreibt:

    Gerne! Man hat Sebastian tatsächlich den rumänischen Klemperer genannt.
    Den Klemperer wiederum kenne ich nicht. Er steht aber auf einer unendlich langen Wunschliste. 🙂

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  3. Pingback: Sonntagsleserin – September 2014 (2. Teil) | buchpost

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